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Rezension: J.R.R. Tolkien – Die Geschichte von Kullervo

Vor einigen Tagen durften sich Tolkien-Fans auf der ganzen Welt über die Herausgabe von Der Fall von Gondolin freuen, dem dritten Teil der Mittelerde-Trilogie, die sich mit den drei wichtigsten Geschichten der frühen Mythologie beschäftigt, namentlich Die Kinder Húrins, Beren und Lúthien und nun Der Fall von Gondolin.

Heute möchte ich jedoch ein anderes Werk von Tolkien besprechen, dass vor nicht allzu langer Zeit in deutscher Sprache herausgegeben wurde, dessen literarische Ursprünge jedoch weit zurückreichen, nämlich Die Geschichte von Kullervo. Bei dieser Geschichte handelt es sich um einen der ersten literarischen Gehversuche von Tolkien.

Worum geht es in der Geschichte?

Hier das Zitat von der Rückseite des Buches:

Kullervo ist ein Waisenknabe mit übernatürlichen Kräften und einem Schicksal voller Schrecken. Er wächst bei seinem Onkel auf, dem finsteren Magier Untamo. Jener hatte einst seinen Vater umgebracht, seine Mutter entführt und Kullervo selbst, als er noch ein Junge war, dreimal versucht zu töten. Doch die Stunde der Rache ist nicht fern.

Das klingt zunächst nach einer spannenden Fantasy-Story, wenn sie auch nicht im Mittelerde-Kosmos spielt. Fans von Tolkien wird ebenfalls schnell auffallen, dass dieses Werk nicht von Christopher Tolkien (Tolkiens Sohn), sondern von Verlyn Flieger herausgegeben wurde. Dieser Name sagte mir zunächst nichts, aber die optische Aufmachung des Buches und die Tatsache, dass es aus der Feder Tolkiens stammte, ließen mich bereitwillig die 22 Euro bezahlen, obwohl ich (aufgrund der Schutzfolie) keinen Blick in das Buch selbst werfen konnte. 

Nicht ganz das, was ich erwartet hatte

Zwar hatte ich keine Story aus Mittelerde erwartet, ging jedoch davon aus eine solide Fantasy-Geschichte zu lesen. Die Geschichte von Kullervo entpuppte sich jedoch ziemlich schnell als eine hübsch verpackte literarische Studienausgabe eines alten finnischen Epos, mit dem Tolkien sich in jungen Jahren beschäftigte. Ein rascher Blick in das Inhaltsverzeichnis offenbart, dass die eigentliche Geschichte nur einen verhältnismäßig kleinen Anteil des Buches ausmacht (zumal der Text in Englisch und Deutsch abgedruckt ist). Der Rest beinhaltet Namenslisten, Anmerkungen und Kommentare, sowie Aufsätze über die Geschichte.

Was das Buch eigentlich ist

In der Einleitung schreibt Verlyn Flieger, anerkannte Tolkien-Expertin über dieses Werk:

Es handelt sich nicht nur um Tolkiens erste Kurzgeschichte, sondern auch um seinen ersten Versuch mit einem tragischen Stoff, und außerdem ist dies sein erster Versuch, mythopoetische Prosa zu schreiben (insofern ist dieser Text eine Art Ouvertüre zum gesamten Kanon seiner Fiktionen).

Seite 15

Da ich als ahnungslos an dieses Buch heranging, dachte ich zunächst, dass Die Geschichte von Kullervo direkt aus Tolkiens Feder stammte. Diese Annahme war jedoch nur bedingt richtig, da Tolkien auf eine alte finnische Sage, das Kalevala, zurückgriff und die Geschichte um die tragische Figur Kullervo auf seine eigene Art erzählte. 

Und diese Geschichte ist ganz anders geartet als etwa Der Hobbit. Flieger schreibt:

»Die Geschichte von Kullervo« – gewiss nichts für Kinder, weder spielerisch noch satirisch, auch nicht allegorisch und mit nur wenig von jener zauberischen Atmosphäre, die Tolkien für den wesentlichen Bestandteil des Märchens hielt – ist unerbittlich düster, eine ahnungsvolle und tragische Erzählung von Blutrache, Mord, Kindesmisshandlung, Rache, Inzest und Selbstmord, so ganz anders im Tonfall und Inhalt als seine anderen kürzeren Texte, dass sie fast eine Kategorie für sich bildet.

Seite 21

Den vertrauten Mittelerde-Charme sucht man hier vergebens. Tolkien hingegen war von dem Kalevala so fasziniert, dass er sogar versuchte Finnisch zu lernen, um es im Original lesen zu können, woran er allerdings scheiterte. Über seine erste Begegnung mit dem Kalevala schreibt er:

Man fühlt sich wie Kolumbus auf einem neuen Kontinent oder Thorfinn im schönen Vinland. […] Und am Ende mag man fühlen, dass man eine lange Zeit nicht mehr nach Hause möchte, wenn überhaupt. So erging es mir, als ich zuerst das Kalevala las – als ich, heißt das, den Schritt über den Abgrund tat, der die Indo-europäisch sprechenden Völker Europas von dem kleineren Reich trennte, wo man in eigenartigen Ecken an den vergessenen Sprachen und Erinnerungen einer älteren Zeit festhält. 

Seite 138-139

Tolkien war fasziniert von diesem finnischen Werk, so dass er sich hinsetzte, um es teilweise in seinen Worten wiederzugeben und es, nach seinem Belieben, anzupassen und auszuschmücken. Flieger schreibt über Tolkiens Vorgehensweise:

Tolkiens Behandlung der Vorlage vertieft die Geschichte, verlängert die Spannung und fügt Psychologie und Rätsel hinzu; er entwickelt die Figuren weiter, während er die paganen und primitiven Qualitäten beibehält und intensiviert, die ihn von Anfang an bei der Lektüre des Kalevala faszinierten.

Seite 26

Doch trotz aller Mühen Tolkiens bleibt es fraglich, ob seine heutige Fangemeinde viel mit seiner Geschichte anzufangen weiß, wobei man natürlich bedenken muss, dass sie vermutlich ein reiner, wenn auch ernster, Zeitvertreib war, der nie für eine Veröffentlichung gedacht war. Die Geschichte von Kullervo liest man am besten als das, was sie ist:

Was auch immer Tolkien unmittelbar mit der Geschichte vorgehabt haben mag und welchen Beitrag zu seinem späteren Werk sie auch darstellt, man fasst sie im Nachhinein am besten als Übungsstück auf, als Text, mit dem jemand sein Handwerk lernt, indem er bewusst bereits vorliegendes Material nachahmt.

Seite 210

Mein Fazit

Wer sich lediglich für Tolkiens Mittelerde-Welt begeistern kann, der sollte von diesem Buch die Finger lassen und das Geld besser in Der Fall von Gondolin investieren. Wer sich jedoch für Tolkien als Schriftsteller und dessen Entwicklung interessiert, der wird sicherlich einiges Interessante herausfinden und seinen Lieblingsautor ein Stückchen besser kennenlernen.

Wer sich nicht sicher ist, ob das Buch etwas für ihn ist, der kann sich bei Klett-Cotta eine Leseprobe zur Genüge führen, die als Entscheidungshilfe dienen wird.


Hast du Die Geschichte von Kullervo bereits gelesen? Schreib deine Meinung in die Kommentare.

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